Das Gleichnis vom reichen Mann und armen Lazarus wird oft verwendet, um die Lehre vom ewigen Leiden in der Hölle zu rechtfertigen. In diesem Artikel wird untersucht, ob dies gerechtfertigt und wie das Gleichnis am besten zu verstehen ist.
Eine oberflächliche Lektüre des Gleichnisses könnte den Leser zu dem Schluss bringen, dass das Gleichnis vom reichen Mann und Lazarus (Lk 16,19-31) eine klare Vorschau auf das Leben nach dem Tod ist. Aber ein solches Verständnis widerspricht der alttestamentlichen Lehre über den Scheol, passt nicht in den biblischen Kontext der Verse und berücksichtigt nicht, dass die Erlösung allein durch Jesus kommt.
Zunächst muss klargestellt werden, dass das griechische Wort ᾅδης (Hades) (das griechische Äquivalent zum hebräischen Wort שְׁאוֹל (Scheol)) in Lk 16,23, welches manchmal fälschlicherweise mit Hölle übersetzt wird, nicht die moderne Vorstellung von Hölle trägt. Beide, Lazarus und der reiche Mann, waren im Hades. Der Hades ist nur ein vorübergehender Ort für gute und schlechte Menschen, der letztlich zerstört werden wird (Off 20,14). Daher kann dieses Gleichnis nicht verwendet werden, um über einen ewigen Ort des Leidens für Nichtchristen zu lehren, da der Hades gute und schlechte Menschen beinhaltet und nicht ewig ist.
Zu behaupten, dass dieses Gleichnis spezifische Anweisungen über das Leben nach dem Tod lehrt, ist meiner Meinung nach aus fünf Gründen höchst problematisch und unbiblisch. Warum?
- Weil es der Lehre des Alten Testaments widerspricht.
- Hier sind einige der Behauptungen, die das Alte Testament über den Hades (genauer gesagt Scheol) aufstellt:
- Denn es gibt keine Aktivität, keine Planung oder Weisheit im Scheol, wohin du gehst. (Pred 9,10)
- Die Toten wissen nichts und haben keine Belohnung mehr. (Pred. 9,5)
- Weiter wird vom Menschen erklärt:
- Sein Atem geht aus, er kehrt zu seiner Erde zurück. An diesem Tag vergehen seine Gedanken. (Ps. 146,4)
- Im Tod gibt es keine Erinnerung an dich. Wer soll dir im Grab danken? (Ps. 6,5)
- Scheol (das AT-Äquivalent für Hades) im Alten Testament wird als ein Ort des Nichtseins, ein Ort ohne Leben dargestellt. Wer behauptet, das Gleichnis vom reichen Mann und Lazarus schildere tatsächlich, wie der Hades sein wird, widerspricht den Aussagen des Alten Testaments über den Hades.
2. Weil es den biblischen Kontext des Kapitels ignoriert.
- Kapitel 16 beginnt mit dem Gleichnis vom klugen Verwalter, in dem Jesus die kluge Geldführung des Verwalters lobt (Lukas 16,8)
- dann spricht Jesus davon, mit dem anvertrauten Vermögen treu zu sein (Lk 16,11)
- dann warnt er davor, dem Mammon zu dienen (Lk 16,13)
- das Gleichnis vom reichen Mann und Lazarus richtet sich an die geldliebenden Pharisäer (Lukas 16:14)
- das gesamte Kapitel hat ein Thema: den Umgang mit Geld und die Gefahr des Reichtums
- diesen Kontext ernst zu nehmen bedeutet, das Gleichnis vom reichen Mann und Lazarus zunächst einmal als eine Warnung vor dem egoistischen Gebrauch des Reichtums zu verstehen
- das Gleichnis zu verwenden und es primär als Zeitplan über das Leben nach dem Tod zu interpretieren, ignoriert den biblischen Kontext des Gleichnisses.
3. Weil es nicht berücksichtigt, dass die Erlösung allein durch den Glauben an Jesus Christus erfolgt.
- Wenn wir davon ausgehen, dass dieses Gleichnis etwas über das Leben nach dem Tod lehrt, müssen wir dies konsequent umsetzen.
- Was bringt Lazarus auf die gute Seite des Hades und was den Reichen auf die schlechte Seite? Der reiche Mann wird verurteilt, weil er mit seinem Reichtum selbstsüchtig war. Lazarus wird gerettet, weil er arm war und im Leben gelitten hat. Lazarus wurde nicht gerettet, weil er an Jesus glaubte. Wenn das Gleichnis vom Leben nach dem Tod handeln würde, würde es aussagen, dass viele Reichen (die prozentual gesehen, in der westlichen Welt leben) in die „Hölle“ kommen, weil sie ihren Reichtum auf egoistische Weise verwendet haben und die Armen in den Himmel kommen, weil sie schon in dieser Welt gelitten haben.
- Aber Jesus lehrte, dass er allein der einzige Weg zum Vater ist (Joh 14,6)
- Jesus ist der einzige Eingang in das zukünftige Reich Gottes, es gibt keine Erlösung außerhalb von ihm!
4. Weil es Römer 11,26 widerspricht
- der reiche Mann im Gleichnis muss ein Israelit sein, denn er nennt Abraham „Vater“ (Lk 16,24) und Abraham nennt ihn „Sohn“ (Lk 16,25). Ebenso kennen die Brüder das Gesetz des Mose (Lk 16,29), das nur den Israeliten bekannt war
- Römer 11,26 behauptet, dass „ganz Israel“ gerettet werden wird
- wenn das Gleichnis also Einzelheiten über das Leben nach dem Tod lehren würde, würde es Römer 11,26 widersprechen, weil der reiche Mann, ein Israelit, dann in der „Hölle“ wäre.
5. Weil es eine abscheuliche Vision des Himmels darstellt
- wenn das Gleichnis Details über das Leben nach dem Tod enthüllen würde, dann würden die Geretteten ewig das Leiden der Verlorenen vor Augen haben
- sich nur vorzustellen, die Ewigkeit angesichts der Folter von Menschen zu verbringen, die wir auf dieser Welt liebten, ist eine grausame Vision des Himmels und sicherlich nicht vereinbar mit der Vision des zukünftigen Königreichs, die die Bibel lehrt
Aus diesen 5 Gründen erlaubt das Gleichnis meines Erachtens nicht, es als tatsächliche detaillierte Beschreibung des zukünftigen Lebens zu verstehen.
Wenn das Gleichnis nichts über das Leben nach dem Tod lehrt, was lehrt es dann?
Die ersten Christen konzentrierten sich auf die moralische Wirkung des Gleichnisses mit seiner Anklage gegen die Reichen, die die Armen vernachlässigten. Dieses Verständnis des Gleichnisses hat im Alten Testament eine lange Tradition (Jes 58,6-7; 61,1), passt gut in den biblischen Kontext von Kapitel 16 und geht einher mit der neutestamentlichen Lehre von der Großzügigkeit gegenüber den Armen und der gefährlichen Liebe zum Geld (1 Tim 6,8-10; Jakobus 2,5-7).
Dieses Gleichnis ist in erster Linie eine Warnung an die Reichen, die Armen nicht zu vernachlässigen! Die meisten Theologen stimmen darin überein, dass Jesus wahrscheinlich ein bekanntes Volksmärchen verwendet und modifiziert hat. Jesu Gebrauch des Volksmärchens bedeutet nicht, dass er jedes Detail des Volksmärchens billigte. Wenn er über Beelzebub (Mt 12,24) und Mammon (Mt 6,24) sprach, benutzte er auch gängige Volksthemen, ohne jedes Detail darüber als Wahrheit zu bestätigen. Daher sollte nicht jedes Detail des Gleichnisses wörtlich genommen werden. Das Gleichnis darf nicht als detaillierte Beschreibung des Lebens nach dem Tod verstanden werden. „Dies ist einfach nicht das Anliegen des Gleichnisses, und wir dürfen nicht vergessen, dass Gleichnisse Vignetten sind, keine Systeme und schon gar keine systematischen Theologien. Dies ist keine wörtliche Beschreibung, wie das Gericht stattfinden wird.“ (Snodgrass 2018:429).
Das Gleichnis macht einen weiteren wirklich wichtigen Punkt, den wir nicht übersehen sollten. Die ursprünglichen Zuhörer hätten den reichen Mann als von Gott gesegnet und Lazarus als von Gott verflucht angesehen. Reichtum wurde als Zeichen des Segens angesehen, so wie Abraham von Gott mit Reichtum gesegnet wurde. Der reiche Mann war ein Israelit und wurde auf eine ordentliche Weise begraben. Lazarus war arm, was normalerweise als Strafe Gottes verstanden wurde. Die Straßenhunde leckten seine Wunden (Lukas 16,21), was ihn rituell unrein machte und ihn eventuell sogar mit dem Heidentum assoziierte. Er wurde nicht einmal begraben. Jeder Israelit hätte angenommen, dass der Reiche in den Himmel kommt und dass Lazarus in die „Hölle“ kommt.
Aber Jesus kehrt, wie so oft, alles um. Die Umkehrung der Zustände der beiden Männer passt zu den Umkehrungen in so vielen anderen Gleichnissen von Jesus. Lazarus in Abrahams Schoß bedeutet Gottes Identifikation mit den Armen und lässt den Hörer nicht glauben, Lazarus sei wegen seines Zustands verflucht. Wie so oft identifiziert sich Jesus mit den Ärmsten, den Geringsten und den Gebrochenen. Wenn Gott die Armen und Unterdrückten liebt, wird er das selbstsüchtige Verhalten der Reichen richten, die den Armen so viel Leid zufügen. Dieses Gleichnis ist ein Spiegel dessen, was im Dienst Jesu vor sich ging. Die Armen und Geringsten wurden von Jesus aufgenommen. Und Jesus richtete die Reichen und Selbstgerechten, indem er sie warnte und zur Buße aufrief.
„Die Themen der Umkehrung und des Urteils müssen ihren Platz finden. Das Gleichnis ist eine Warnung an die Reichen und betont die Bedeutung dessen, was Menschen mit der Gegenwart tun, und lehrt zudem, dass die Menschen nach ihrer Lebensweise gerichtet werden und dass die Konsequenzen schwerwiegend sein werden“ (Snodgrass 2018: 432).
Zusammenfassung dessen, was das Gleichnis lehrt:
- Reichtum ist kein Zeichen von Gottes Gunst
- Gott identifiziert sich mit den Armen; er ist der Gott der Armen und Geringsten
- wir müssen mit dem uns anvertrauten Geld verantwortungsbewusst umgehen
- Wir dürfen nicht die Bedürfnisse einer bedürftigen Person, in unserem Umfeld, ignorieren
- Egoismus und Gier werden Konsequenzen haben, wenn Gott alle Menschen richten wird
Snodgrass, K. 2018. Stories with intent: a comprehensive guide to the parables of Jesus. Kindle ed. Grand Rapids: Wm. B. Eerdmans Publishing Co.
Schreibe einen Kommentar