In Mt 5,17 lesen wir, dass Jesus nicht kam um das Gesetz aufzulösen, sondern um es zu erfüllen. Wie passt das mit den vielen Ereignissen in denen er entgegengesetzt dem Gesetz des Mose gelehrt und gehandelt hat zusammen? Was bedeutet das für unser Verständnis des Gesetzes und der Schrift?
Das Gesetz des Mose ist klar: wer die Ehe bricht muss gesteinigt werden (Lev 20,10; Dt 17,7; Dt 22,22; Ex 20:14; Dt 5,18). Hier ist keine andere Interpretation möglich, die heilige Schrift ist klar. Gott hat es so offenbart, dies ist sein ausdrücklicher Wille. Wer Gott gehorsam sein will muss Ehebrecher töten. Das war das Verständnis der Juden z.Z. Jesu.
Wieviele Dinge in der Bibel sind für uns glasklar? Es steht so geschrieben also muss es genau so Gottes Wille sein.
Jesus hat das Gesetz des Mose erfüllt. Aber er hat es nicht erfüllt, indem er die Ehebrecherin gesteinigt hat. Im Gegenteil! Er hat das, was glasklar von Gott angeordnet war nicht getan, sondern das Gegenteil: Er hat die Ehebrecherin ohne Strafe (!!!) gehen lassen. Er war dem Gesetz, zumindest so wie es die Pharisäer und Schriftgelehrten interpretiert haben, ungehorsam und trotzdem hat er das Gesetz erfüllt.
In der Bergpredigt (Mt 5-7) legt Jesus das Gesetz radikal neu aus. So radikal, dass ihm klar war, dass er angeklagt werden würde das Gesetz nicht ernst zu nehmen. Vor dieser Neuinterpretation des Gesetzes finden wir in Mt 5,17 Folgendes:
Ihr sollt nicht meinen, daß ich gekommen sei, um das Gesetz oder die Propheten aufzulösen. Ich bin nicht gekommen, um aufzulösen, sondern um zu erfüllen! (Schlachter Übersetzung)
Jesus interpretiert das Gesetz radikal neu und erfüllt es dadurch. Dies wird in der Geschichte der Ehebrecherin wunderschön klar. Die Juden waren sich sicher, dass Sünde Strafe verdient. Die Strafe für Ehebruch war der Tod, das war Gottes Wille. Aber Jesus erfüllte das Gesetz, indem er die Ehebrecherin ungestraft gehen lässt und sie vor ihren Anklägern schützt. Jesus offenbart dadurch einen Gott, bei dem Gnade über Gesetz und Gerechtigkeit triumphiert. Trotzdem verharmlost Jesus die Sünde nicht. Er weiß, dass Sünde lebensverachtend ist und immer zerstörerisch. Deshalb sagt er zu der Frau: „Sündige von jetzt an nicht mehr.“ (Joh 8,11). Jesus interpretiert das Gesetz, die heilige Schrift, radikal neu. Als er gefragt wird was das Wichtigste im Gesetz sei ist seine Antwort: „Liebe Gott und deinen Nächsten.“ (Mt 22,37-40). In Jesu Augen hat das Gesetz nur das eine Ziel: es soll zur Liebe führen. Wo es das nicht tut ist es missverstanden oder verdreht.
Obwohl die Geschichte der Ehebrecherin sehr wahrscheinlich historisch ist, wurde sie vermutlich erst einige hundert Jahre später ins Johannesevangelium eingefügt. Warum? Wir wissen es nicht genau. Aber kann es sein, dass die radikale Liebe Jesu zu Sündern zu unbequem war? Gott ist doch gerecht und bestraft Sünde, oder? War die Botschaft der Geschichte zu gegensätzlich zum damaligen Gottesbild?
Jesus hat das Gesetz erfüllt, indem er ein Leben der Barmherzigkeit und Liebe geführt hat. Er hat die Außenseiter, die Geringsten und Verachteten bedingungslos angenommen, ihnen Wertschätzung gezeigt und ihnen ihre Würde wiedergegeben. Er hat uns Gott als liebenden Vater vorgestellt und nicht als strafenden und fernen Tyrannen.
Er offenbart uns Gott nicht als einen Gott der von den Menschen getrennt ist aufgrund ihrer Sünden. Er offenbart uns Gott als einen Gott der Sünder mit offenen Armen begrüßt, ihnen einfach so, ohne Opfer oder Zutun des Sünders, vergibt und sie annimmt (Lk 5,20-23+30-32; 7,36-50; 18,9-14), ohne damit die Ernsthaftigkeit der Sünde zu untergraben.
Was bedeutet dies für unseren Umgang mit Bibelversen, die anscheinend glasklar sind, aber dem widersprechen wie Jesus uns Gott offenbart hat? Anhand von was entscheiden wir wie Bibelstellen auszulegen sind und wie relevant sie sind? Sind wir die Pharisäer die ganz klar wissen wie Gottes Wort auszulegen ist und darauf drängen, dass „Gottes Wille“, egal wie brutal und menschenverachtend, geschieht? Oder folgen wir Jesu Vorbild und erfüllen das Gesetz indem wir lieben, Gnade erweisen, barmherzig sind, radikal vergeben und uns auf die Seite der Unterdrückten und Aussenseiter stellen?
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