Als Vater von 4 Kindern habe ich unzählige wertvolle geistliche Lektionen aus dem Vatersein und dem Leben mit Kindern gelernt. Als meine jüngste Tochter ihren Bruder biss, war ich erstaunt, wie er reagierte. Das brachte mich zum Nachdenken über das Bild, das so viele Christen von Gott haben und wie sie seine Barmherzigkeit, Liebe und Gerechtigkeit verstehen. Und es führte mich zu vielen Fragen: Ist mein Sohn barmherziger als Gott? Kann Gott einfach so verzeihen? Wie sieht Gottes Gerechtigkeit aus?
Kann Gott vergeben, ohne Blut zu vergießen?
Gestern hat meine Tochter (fast 3 Jahre alt) meinen Sohn (5 Jahre alt) gebissen. Sie hat einen kleine Wunde auf seinem Bauch hinterlassen. Mein Sohn weinte sehr, während ich ihn streichelte. Nach einer Weile drehte er sich zu seiner Schwester um und sagte: „Ich vergebe dir, weil ich dich liebe.“ Dann umarmte er sie und gab ihr einen Kuss. Ohne Frage war ich ziemlich stolz auf meinen Sohn. Er hatte sich entschieden, den „Jesus-Weg“ zu gehen (wie wir in unserer Familie sagen). Er vergab seiner Schwester ohne Gegenleistung und ohne Aufforderung meinerseits. Er vergab einfach so. Er praktizierte Barmherzigkeit und selbstlose Liebe.
Als ich später über diese Situation nachdachte, konnte ich nicht umhin, sie mit dem Gottesbild zu vergleichen, das viele Christen heute haben. Als ich aufwuchs, lernte ich, dass Gott nicht einfach vergeben kann, weil er ein gerechter Gott ist. Mir wurde gesagt, dass Gott Opfer braucht, um vergeben zu können, denn ohne Blutvergießen gibt es keine Vergebung (Hebr 9,22). Deshalb musste Jesus die Strafe Gottes ertragen, damit wir von Gottes Zorn befreit werden können. Gott musste seinen Zorn abladen, er konnte nicht einfach vergeben, wie es mein Sohn tat. Ein solcher Gott gleicht allen anderen Göttern der Antike. Sie alle haben Opfer verlangt, um besänftigt zu werden. Sie alle werden leicht zornig und müssen besänftigt werden, damit sie ihrem Zorn nicht freien Lauf lassen. Aber ist eine solche Sichtweise von Gott wahr? Entspricht dieses Bild dem Gott, den Jesus uns offenbart hat? Ich bezweifle es! Ich bin sicher, dass Gott viel liebevoller und barmherziger ist als mein Sohn!
In der ganzen Bibel und besonders bei Jesus sehen wir, dass Gott vergeben kann, ohne Opfer, ohne vergoßenes Blut und ohne Strafe zu verhängen. Bereits das Alte Testament bezeugt diese Wahrheit in Psalm 103.
Psalm 103,8-10 (NGÜ): Barmherzig und gnädig ist der Herr, er gerät nicht schnell in Zorn, sondern ist reich an Gnade. Nicht für immer wird er uns anklagen, noch wird er ewig zornig auf uns sein. Er handelt an uns nicht so, wie wir es wegen unserer Sünden verdient hätten, er vergilt uns nicht nach unseren Vergehen.
Jesus hat immer wieder Sündern vergeben: dem Gelähmten (Markus 2,5), der Frau, die beim Ehebruch ertappt wurde (Johannes 8,1-11), Zachäus (Lukas 19,1-10) und der sündigen Frau (Lukas 7,47). Jesus vergab ihnen, ohne vorher ein Opfer zu verlangen oder sie zu bestrafen, damit gewisse Anforderungen der Gerechtigkeit erfüllt werden konnten.
Aber was ist mit Hebräer 9:22?
„Überhaupt ist nach dem Gesetz fast jedes Mal Blut nötig, wenn etwas gereinigt werden muss, und ohne das Blut eines Opfers gibt es keine Vergebung.“ (Hebr 9,22, NGÜ).
Die Frage ist: ist V. 22b, „ohne Blutvergießen gibt es keine Vergebung“, eine universal gültige Aussage oder nicht?
Viele Christen halten es für eine universal gültige Aussage, dass Vergebung ohne Blutvergießen unmöglich ist. Aber wenn wir den Vers im Kontext lesen, finden wir gute Gründe, die darauf hinweisen, dass dies keine allgemein gültige Aussage ist!
In Hebräer 10,4 steht eindeutig, dass das Blut von Tieren die Sünden nicht wegnehmen kann! Im gesamten Kapitel 10 geht es darum, dass Gott keine blutigen Opfer will, sondern dass er unseren Gehorsam wünscht. In Kapitel 10 heißt es dreimal, dass Jesus deutlich gemacht hat, dass Gott keine Opfer will! Die ganze Aussage des Hebräerbriefs ist, dass Gott keine Blutopfer will, sondern unseren Gehorsam. Jesus hat das Opfersystem abgeschafft, weil es nur ein Zugeständnis von Gott an die Israeliten war, das Gott für eine begrenzte Zeit erlaubte.
Hebräer 9,22 bestätigt diese Lesart. V. 22a gibt den Kontext vor: „nach dem Gesetz“. In diesem Vers geht es um das mosaische Gesetz, den alten Bund. Der alte Bund basierte auf der Vorstellung, dass Blut zur Vergebung notwendig ist. Aber auch im alten Bund gab es Ausnahmen, weshalb es heißt, dass „fast alles durch Blut gereinigt wurde“. „Zum Beispiel konnte ein verarmter Israelit dem Priester ein Zehntel eines Epha (vier Pfund) Feinmehl als Sündopfer bringen, anstatt eines Lammes oder sogar anstatt zweier Turteltauben oder junger Tauben (Lev. 5,11). In Num 16,46 wurde die Gemeinde Israels nach der Vernichtung von Korach und seinen Gefährten mit Weihrauch gesühnt“ (Bruce 1990:226-227). Diese Ausnahmen zeigen bereits, dass V. 22b keine universal gültige Aussage sein kann.
Ellingworth bekräftigt, dass es sich nicht um eine allgemeingültige Aussage handelt, indem er kommentiert, dass V. 22b „keineswegs sein eigenes unqualifiziertes Urteil darstellt, sondern eine einfache Beobachtung dessen ist, was innerhalb der alten, gesetzlichen Dispensation geschah: ‚Unter dem Gesetz….‘ “ (1993:472).
Zusammenfassung:
Im alten Bund glaubte man, dass Blut notwendig ist, um Vergebung zu erlangen. Der Hebräerbrief macht jedoch deutlich, dass dies nicht stimmt und dass Jesus gekommen ist, um den alten Bund abzuschaffen und einen neuen Bund zu initiieren. Daher haben wir keinen Grund zu glauben, dass dieser Vers von uns verlangt, zu glauben, dass Gott Blut braucht, um vergeben zu können.
Gottes Gerechtigkeit ist wiederherstellend und nicht vergeltend
Woher kommt diese Vorstellung, dass Gott besänftigt werden muss? Sie entspringt in der Regel einem falschen Verständnis der Natur seiner Gerechtigkeit. Unser Verständnis von Gottes Gerechtigkeit hat großen Einfluss auf unser Verständnis von Gottes Charakter und damit auf unsere Beziehung zu Gott. Wir dürfen die Bedeutung eines richtigen Verständnisses von Gottes Gerechtigkeit nicht unterschätzen. Seine Gerechtigkeit ist von Natur aus wiederherstellend und nicht vergeltend (eine umfangreiche Darlegung dieser Wahrheit findet sich in DIESEM Artikel)!
Das moderne Konzept der Gerechtigkeit, das von vielen Christen übernommen wurde, ist durch Justitia, die Dame mit der Waage, gekennzeichnet. Justitia war die römische Göttin der Gerechtigkeit. Bei Justitia geht es um Objektivität und unparteiisches Richten. Ihre Gerechtigkeit ist vergeltend (Auge um Auge), strafend (im Gegensatz zur Barmherzigkeit) und kalt. Justitia ist stark von Aristoteles beeinflusst, der Gerechtigkeit von Güte trennte und forderte, dass Richter keine Gefühle haben dürfen. Die Projektion einer solchen menschlichen Auffassung von Gerechtigkeit auf Gott schafft einen Gott, der nach unserem Bild geschaffen ist. Diese Auffassung von Gerechtigkeit ist in der Tat das Gegenteil von Liebe und Barmherzigkeit. Dieses niedrige Verständnis von Gerechtigkeit ist jedoch weit von der Gerechtigkeit Gottes entfernt.
Gottes Gerechtigkeit ist wiederherstellende Gerechtigkeit, ein rettendes Handeln Gottes, das den Schalom wiederherstellt und die Dinge in Ordnung bringt. Bei echter Gerechtigkeit geht es darum, zerbrochene Leben zu heilen und kaputte Beziehungen wiederherzustellen. Wiederherstellende Gerechtigkeit ist nicht nur ein Thema in der Heiligen Schrift, sie steht im Kern des Evangeliums.
Gottes Gerechtigkeit ist von Natur aus wiederherstellend. Er arbeitet ständig daran, seine ganze Schöpfung so wiederherzustellen, wie sie ursprünglich sein sollte. Und er wird seinen Plan letztlich in Partnerschaft mit uns verwirklichen.
Fazit:
Als mein Sohn seiner Schwester vergab, hat er Gottes Barmherzigkeit und Gottes wiederherstellende Gerechtigkeit perfekt demonstriert. Er stellte die Beziehung wieder her, indem er seiner Schwester barmherzig vergab, so wie Jesus seinen Mördern am Kreuz vergab (Lk 23,34). Gott kann und will verzeihen. Er braucht kein Menschenopfer, um besänftigt zu werden. Aber wenn Menschen darauf bestehen, zu sündigen und dadurch andere zu verletzen, dann wird er sie richten. Sein Urteil wird schmerzhaft sein. Die Kirchenväter verstanden Gottes Gericht als ein reinigendes Feuer. Am Ende ist Gottes Gerechtigkeit und sein Gericht wiederherstellend und nicht vergeltend, weil Gottes Gerechtigkeit von Natur aus wiederherstellend ist. Er ist viel barmherziger, als es ein Mensch sein kann, und alles, was er tut, ist von seinem Wesen der Liebe geleitet und inspiriert (1. Johannes 4,8). Durch sein wiederherstellendes Gericht, das von seiner Liebe geleitet wird, wird Gott alles wieder in Ordnung bringen. Das ist die gute Nachricht der Bibel.
Bibliografie:
Bruce, F. F. (1990). The Epistle to the Hebrews (Rev. ed., pp. 226–227). Grand Rapids, MI: Wm. B. Eerdmans Publishing Co.
Ellingworth, P. (1993). The Epistle to the Hebrews: a commentary on the Greek text (p. 472). Grand Rapids, MI; Carlisle: W.B. Eerdmans; Paternoster Press.
Flood, D. (2012). Healing the gospel: a radical vision for grace, justice, and the cross. Eugene, Oregon: Cascade Books.
Wright, N . T. (2012). Evil and the Justice of God. SPCK
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Anni
Allversöhnung wird von sehr vielen Menschen mißverstanden u zwar ,daß alle Menschen gerettet werden. ALLE ?????? Oder nur die , welche umkehren. ??
Nick Wallace
Ich denke die Bibel sagt klar, dass Buße notwendig ist um errettet werden zu können. Ohne Buße ist Errettung unmöglich. Aber zugleich redet die Bibel davon, dass Gott eines Tages ALLES mit sich versöhnen wird und jedes Knie sich freudig vor ihm beugen wird. Ich denke sein Gericht wird Leute zur Buße führen. Eines Tages wird jeder Mensch Buße tun und dann wird Gott alles versöhnen. Hier gibt es mehr Infos dazu:
https://www.jesusreformation.org/de/2021/faq-zum-thema-allversohnung/
https://www.jesusreformation.org/de/2020/bibelstellen-zur-rettung-aller-menschen/