„Alle Schrift ist von Gott eingegeben“ (2 Ti 3,16). Dieser Vers hat zu zahllosen Auseinandersetzungen geführt und wurde auf vielfältige Weise interpretiert. Er wird oft als Schlüsselvers verwendet, um den Charakter der Bibel zu definieren. Aber was bedeutet es, dass alle Schrift von Gott eingegeben ist? Was bedeutet es für unser Verständnis des Charakters der Bibel?
VORBEMERKUNG: Dieser Artikel ist nicht für diejenigen gedacht, die glauben, dass die Bibel irrtumslos und fehlerfrei ist. Wenn du die Bibel als perfekt ansiehst, dann ignoriere bitte diesen Artikel. Dieser Artikel richtet sich an diejenigen, die die Bibel lieben, aber Schwierigkeiten haben, das, was sie in der Bibel lesen, mit der Behauptung in Einklang zu bringen, die Bibel sei von Gott inspiriert und daher fehlerfrei und irrtumslos. Wenn du die Probleme, die du in der Bibel siehst, mit Gottes Inspiration in Einklang bringen willst, dann ist dieser Artikel für dich.
Alle Schrift ist von Gott eingegeben und nützlich zur Belehrung, zur Überführung, zur Zurechtweisung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit, damit der Mensch Gottes ganz zubereitet sei, zu jedem guten Werk völlig ausgerüstet. (2 Tim 3,16-17 Schlachter)
Diese Verse werden oft wie folgt interpretiert:
„Alle Schrift“ wird mit der Bibel gleichgesetzt. Deshalb ist die Bibel von Gott inspiriert. Gott ist vollkommen. Alles, was er inspiriert, muss auch vollkommen sein. Die Chicago-Erklärung zur Irrtumslosigkeit der Bibel (1978) behauptet, dass „alle Dinge“ in der Bibel „wahre und zuverlässige Aussagen“ sind (Artikel IX). Folglich ist jedes Wort der Bibel wahr und die Bibel ist vollkommen und ohne Fehler und Widersprüche.
Diese Auslegung dieser beiden Verse hat den Christen, die ihre Bibel treu studieren, aber die Bibel nicht als vollkommen und fehlerfrei akzeptieren können, viel Schaden zugefügt. Viele von ihnen haben geglaubt, dass die Bibel perfekt und fehlerfrei ist, weil ihnen diese Lehre vermittelt wurde. Aber als sie die Bibel selbst studierten, entdeckten sie, dass sie die tatsächliche Gestalt der Bibel nicht mit dieser Behauptung in Einklang bringen können, und Zweifel und Enttäuschung waren die natürliche Folge. Viele von ihnen haben sich vom Christentum abgewandt, weil sie erkannt haben, dass die Behauptungen der Christen über die Bibel einfach nicht wahr sind. Wir verursachen Probleme, wenn wir Dinge über die Bibel behaupten, die nicht wahr sind. Denn wenn Christen über die Bibel lügen, wer weiß, worüber sie noch lügen. Auch wenn viele engagierte Christen versuchen, die Fehler der Bibel zu erklären und aufzulösen (und einige Argumente sind ziemlich gut), glaube ich immer noch, dass die Bibel Fehler hat und Widersprüche enthält. Hier sind nur ein paar wenige von unzähligen Beispielen:
Widersprüche:
Bestraft Gott die Nachkommen für die Sünden der Vorfahren oder nicht?
Ja: Ex 20,5 und Jer 16,11
Nein: Deut 24,16 und Jer 31,30 und Hes 18,4.
Wer hat David zur Sünde angestiftet?
Gott: 2 Sam 24,1
Satan: 1 Chr 21,1
Wurde Jesus vor oder nach dem Passahfest gekreuzigt?
Vorher: Mt 26,17
Danach: Johannes 19,31
Wer war der Vater von Joseph?
Jakob: Mt 1,16
Heli: Lk 3,23-24
Was taten die Frauen nach der Auferstehung?
Sie teilten die Nachricht mit: Mt 28,8 und Lk 24,9
Sie blieben still: Mk 16,8
Wohin ging Paulus nach seiner Bekehrung?
Nach Arabien, NICHT nach Jerusalem: Gal 1,15-17
Damaskus und Jerusalem: Apg 9,18-25
Irrtümer:
Jesus sagte, dass das Senfkorn das kleinste aller Samenkörner ist (Mt 13,32). Nun, das ist es nicht!
Die Bibel unterstützt eine Kosmologie mit flacher Erde und einer schützenden Kuppel darüber (HIER gibt es mehr über die antike Kosmologie in der Bibel zu lesen).
Abiathar (Mk 2,26) war NICHT der Hohepriester, als David die Schaubrote im Tempel aß, sondern Ahimelech (1 Sam 21,1)!
Matthäus schreibt einen Vers fälschlicherweise Jeremia zu, während der Vers ursprünglich aus Sacharja stammt (Mt 27,9-10; vgl. Sach 11,12-13).
Manche Christen glauben, dass sie die Fehler und Widersprüche in der Bibel auflösen und verbergen müssen, weil sie befürchten, dass diese problematischen Stellen die Autorität der Bibel schmälern. Doch das ist ein Trugschluss. Das Gegenteil ist der Fall. Die Fehler und Widersprüche in der Bibel erhöhen die Schönheit und Glaubwürdigkeit der Bibel. Sie zeigen, dass die biblischen Texte nicht von Autoren bearbeitet und geglättet wurden. Sie sind ein wunderbares Zeugnis dafür, dass Gott ständig durch unvollkommene Menschen wirkt, um seine Ziele zu erreichen.
Was bedeutet das Wort „eingegeben“?
Was das Wort „eingegeben“ meint, wird erst klar, wenn wir das griechische Wort für „eingegeben“ in dem Vers und im gesamten biblischen Kontext betrachten. Das griechische Wort für „eingegeben“ ist theopneustos (θεόπνευστος). Dieses Wort ist einzigartig in der Bibel und kommt nur in diesem einen Vers vor! Seine wörtliche Übersetzung lautet „gottgehaucht“ oder auch „von Gott eingehaucht“. Die ganze Schrift ist von Gott eingehaucht! Um zu verstehen, was das bedeutet, müssen wir überlegen, was sonst noch in der Bibel von Gott eingehaucht ist und was das Ergebnis von Gottes Einhauchung ist.
Was in der Bibel ist sonst noch von Gott eingehaucht?
1 Mose 2,7 kommt sofort in den Sinn. Gott hauchte Adam an, und das Ergebnis war, dass Adam lebendig wurde. Das Ergebnis von Gottes Atem war, dass etwas Totes lebendig wurde.
In Hesekiel 37 sieht der Prophet ein Tal voller Gebeine. Gott hauchte (Hesekiel 37:5) und die Knochen wurden lebendig. Das Ergebnis von Gottes Atem war, dass etwas Totes lebendig wurde.
Jesus lehrte: „Der Geist ist es, der lebendig macht“ (Johannes 6,63 NGÜ). Der Geist Gottes ist der Atem Gottes. Der Atem Gottes gibt Leben!
Römer 10,9 lehrt: „Wenn du also mit deinem Mund bekennst, dass Jesus der Herr ist, und mit deinem Herzen glaubst, dass Gott ihn von den Toten auferweckt hat, wirst du gerettet werden.“ (NGÜ). In Johannes 20 lesen wir von der Begegnung, als Jesus seinen Jüngern nach seiner Auferstehung erschien. Das war der Moment, in dem sie begriffen, dass Gott Jesus von den Toten auferweckt hatte. Es war der Moment, in dem sie „gerettet“ wurden. Jesus hauchte sie an, und sie empfingen seinen Geist (Johannes 20,22). Sie erhielten neues geistliches Leben. Das Ergebnis von Gottes Atem war, dass etwas Totes lebendig wurde.
Was bedeutet es, dass „die ganze Schrift“ von Gott eingehaucht ist?
Der Atem Gottes in der Bibel macht etwas Totes lebendig! Ich schlage vor, dass wir dementsprechend das Wesen der Bibel so verstehen sollten. Die Bibel an sich ist weder perfekt noch lebendig, sie ist tot. Warum heißt es dann in Hebr 4,12, dass das Wort Gottes lebendig ist? Es ist der Atem Gottes, der Geist Gottes, der „alle Schrift“ lebendig macht. Der Geist spricht durch „alle Schrift“ und macht sie dadurch nützlich zur Lehre, zur Zurechtweisung…
Das Ergebnis von Gottes Atem in allen biblischen Beispielen war nicht Perfektion. Die Objekte von Gottes Atem (Inspiration) waren tot und auch nachdem Gott sie angehaucht hatte, waren sie alles andere als perfekt! Zu behaupten, dass Gottes Inspiration bedeutet, dass die Bibel perfekt ist, bedeutet, das biblische Verständnis von Gottes Atem zu ignorieren. Die Vorstellung, dass Gottes Inspiration Vollkommenheit bewirkt, ist eine menschliche Vorstellung, die leider oft auf 2 Tim 2,16 projiziert wird!
Theopneustos außerhalb der Bibel
„Die frühen Kirchenväter verwendeten theopneustos, um sich auf Schriften außerhalb der biblischen Texte zu beziehen. Die Verurteilung des Nestorius durch das Konzil von Ephesus wird als „ihre inspirierte Entscheidung“ (auton theopneustou kriseos) bezeichnet und die Inschrift über dem Grab des Abercius als „inspirierte Inschrift“ (theopneuston epigramma; Leben des Abercius 76). In ähnlicher Weise bezeichnet Gregor von Nyssa den Kommentar seines Bruders Basilius als „inspirierte (theopneuston) Darlegung“ (Apologia im Hexaemeron). Das Konzept, dass etwas ‚von Gott inspiriert‘ ist, war in der frühen Kirche nicht auf den Kanon der Heiligen Schrift beschränkt“ (Barry, 2012, 2016). Die frühen Christen haben den Begriff theopneustos nicht ausschließlich auf die Bibel angewandt. Das sollte uns vorsichtig machen, zu viel in das Wort theopneustos hineinzuinterpretieren.
Noch zwei kurze Anmerkungen zu 2 Tim 3,16-17
- Es ist fraglich, ob „alle Schriften“ wirklich mit der Bibel gleichgesetzt werden sollten. Der Kanon der Bibel, wie wir ihn heute kennen, wurde Hunderte von Jahren nach der Abfassung von 2 Timotheus erstellt. Als Paulus den Brief schrieb, hatte er sicher nicht die Bibel im Sinn, wie wir sie heute kennen.
- In 2 Tim 3,16 wird erklärt, WARUM alle Schrift zur Zurechtweisung dient (weil der Geist sie lebendig macht) und wurde nicht in erster Linie geschrieben, um etwas über den Charakter der Bibel zu lehren.
Was ist die Aufgabe der Bibel?
Viele Christen verstehen sich heute als Hüter der Bibel. Wir sollten die Bibel zwar lieben und sie jeden Tag studieren, aber wir sollten sie nicht anbeten. Aber manchmal habe ich das Gefühl, dass manche Christen gefährlich nahe daran sind, die Bibel anzubeten, anstatt Gott anzubeten. Das Gleiche galt für die Pharisäer. Sie sahen sich als die Hüter der Heiligen Schrift. Sie wollten sie beschützen. Das brachte sie ständig in Schwierigkeiten mit Jesus. Einmal sagte Jesus zu ihnen: „Ihr forscht in der Schrift, weil ihr meint, durch sie das ewige Leben zu finden. Aber gerade die Schrift weist auf mich hin.“ (Johannes 5,39 NGÜ). Die Aufgabe der Schrift ist es, auf Jesus hinzuweisen! Die Bibel soll uns helfen zu erkennen, wer Jesus ist, was er vollbracht hat, und uns befähigen, ihm nachzufolgen. Wenn die Bibel nicht auf Jesus hinweist, dann wird sie missverstanden. Jesus ist die höchste Offenbarung Gottes. Jesus allein hat uns gezeigt, wie Gott wirklich ist. Jesus hat uns offenbart, wie ein gottgefälliges Leben aussieht. Gott benutzt die Bibel, um auf Jesus hinzuweisen. Jesus ist das Zentrum der Schrift. Gottes Atem, der Geist des Lebens, öffnet unsere Augen, damit die Bibel uns alles lehren kann, was wir wissen müssen. Auch wenn die Bibel nicht irrtumslos und unfehlbar ist, könnte man dennoch sagen, dass die Bibel „perfekt“ ist; aber „perfekt“ sollte so verstanden werden, dass die Bibel ihren Zweck vollkommen erfüllen kann: Jesus zu bezeugen. Auch wenn die Bibel Fehler und Widersprüche enthält, weist sie uns doch perfekt auf Jesus hin und lehrt uns alles was wir brauchen um ihm folgen zu können. Die Bibel ist ein kostbares Geschenk Gottes an uns, aber sie kann eine schädliche Waffe sein, wenn sie gelesen wird, ohne dass der Geist sie für uns lebendig macht.
Muss die Bibel fehlerfrei sein?
In der gesamten Bibel wird Gott als der Gott dargestellt, der durch unvollkommene Menschen wirkt. Er ist der Gott, dessen „Kraft in der Schwachheit vollkommen ist“ (2 Kor 12,9). Er hat sich entschieden, durch unvollkommene Gefäße zu wirken. Warum sollte er all dem widersprechen, indem er uns eine perfekte Bibel gibt? Gott allein ist perfekt, die Bibel ist es nicht. Aber das schmälert keineswegs den Wert, die Schönheit und die Autorität der Bibel. Im Gegenteil, es erhöht die Schönheit Gottes und die der Bibel. Greg Boyd schließt sein Buch „Inspired Imperfection“ auf diese Weise ab:
„Ich kann meine eigene Zerbrochenheit in allen Personen sehen, die in Gottes Geschichte auftauchen (außer in Jesus), und ich kann mich leicht mit der Sünde und den Unvollkommenheiten der Autoren identifizieren, die Gott benutzt hat, um Gottes Geschichte aufzuschreiben. Wenn Gott in der Lage war, diese gefallenen und fehlbaren Menschen zu gebrauchen, um die Geschichte zu schreiben, die als Grundlage für die Gemeinschaft des Volkes Gottes dienen sollte, und das Mittel, durch das Menschen in eine Beziehung zu Christus kommen sollten, dann gibt es sicherlich Hoffnung für den Rest von uns gefallenen und fehlbaren Menschen. Wenn Gott in der Lage war, die Zerbrochenheit und die Fehlerhaftigkeit der biblischen Autoren in etwas zu verwandeln, das Gottes Herrlichkeit zeigt, dann kann ich darauf vertrauen, dass Gott dasselbe mit meiner eigenen Zerbrochenheit und meinen eigenen Fehlern sowie mit der Zerbrochenheit und den Fehlern aller anderen Menschen tun kann. (…)
Es ist die Geschichte eines Gottes, der in der Lage ist, menschliche Schwäche und Sünde als Baumaterial zu verwenden um gottverherrlichende Meisterwerke zu schaffen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass wir uns im Licht des Kreuzes für die Fehler der Bibel genauso wenig schämen müssen wie für die Narben am auferstandenen Körper Jesu – wenn wir nur unsere alten Annahmen darüber, wie eine von Gott inspirierte Bibel auszusehen hat, beiseite lassen und uns stattdessen mutig auf die kreuzzentrierte Bibel einlassen können, die wir tatsächlich haben. Es ist vielleicht nicht die Bibel, die viele von uns zu erwarten gelernt haben. Aber es ist genau die Art von Bibel, die wir meiner Meinung nach von einem Gott erwarten sollten, der in der Person Jesu Christi tiefe Narben davongetragen hat, die er nun wie eine Krone trägt“ (Boyd, 2020:Postscript).
Zusammenfassung:
Wenn man davon ausgeht, dass „die ganze Schrift“ mit der Bibel gleichgesetzt werden kann, kann man zu dem Schluss kommen, dass die Bibel von Gott inspiriert/eingehaucht ist. Das bedeutet nicht, dass die Bibel fehlerfrei ist, sondern vielmehr, dass die Bibel ein „fehlerhaftes/totes“ Werkzeug ist, das Gott durch seinen Geist lebendig macht, um uns alles zu lehren, was wir wissen müssen, um ein Leben zu führen, das Gott gefällt. Das wertet die Bibel nicht ab. Nein, es hebt die Schönheit Gottes hervor und bekräftigt, dass Gott immer durch gebrochene Menschen und fehlerhafte Dinge arbeitet, um seine Ziele zu erreichen.
Bibliografie:
Barry, J. D. (2012, 2016). Theopneustos: Interpreting “God-Breathed.” In Faithlife Study Bible. Bellingham, WA: Lexham Press.
Boyd, G. (2020). Inspired Imperfection: How the Bible’s Problems Enhance Its Divine Authority. Fortress Press.
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